Platon entfaltet in seinem Werk „Politeia“ (entstanden um 347 v. Chr.) das Konzept von der „öffentlichen Sache“. Politeia (Πολιτεία) heißt auf Deutsch auch „Staat“ und auf Lateinisch „res publica“. Die Ideenlehre Platons und seine „Politeia“ könnten wieder als Modell für aktuelle Staatsgebilde, sowie neu für Internetstrukturen und für politische Plattformen wie respublica.org herangezogen werden. Wie das aussehen könnte und was Aristoteles davon gehalten hätte, wird hier kurz skizziert.
Platons Ideen
Höchste Idee und somit Bedingung für alle anderen Ideen ist für Platon die Idee des Guten (agathón). Sie ist als höchste Idee auch Voraussetzung für die Vernunft und für die Tugend Gerechtigkeit (dikaiosýnē). Die Idee des Guten ermöglicht vernünftiges Wirken, das Gerechtigkeit hervorbringt. In einem gerechten Staatsgebilde zeigt sich die Rückbindung an die Idee des Guten. Da Platon leider kein reales Vorbild für eine gerechte Staatsform fand, beschrieb er in seinem Werk „Politeia“ (entstanden um 347 v. Chr.) seine Idee vom gerechten Staat. Platons Idealstaat taugt zwar nicht als Blaupause für aktuelle Staatsgebilde und auch nicht zur Modellierung einer Internetökologie oder -ökonomie. Doch finden sich in der „Politeia“ Aspekte, die an Phänomene des derzeitigen Internets erinnern, etwa die Argumentation gegen Privateigentum. In Platons Idealstaat sind Personen, Güter und Wohnungen Gemeingüter. Sie gehören allen Staatsbewohnern. In diesem Essay wird Platon als Inspirator für eine Netzökonomie präsentiert.
Der großgeschriebene Staat
In seinem Hauptwerk „Politeia“ (gr. Πολιτεία, lat. res publica, dt. Staat) entwirft Platon eine Idee und keine Utopie des Staates. Platon setzt bei der Frage des Sokrates nach dem Wesen der Gerechtigkeit an. Sokrates stellt die sophistische These auf, das Gerechte sei dasselbe wie das dem Stärkeren Nützliche. Als Reaktion darauf konzipiert Platon seine Idee des Staates. Diese Idealvorstellung weicht von faktischen Staatsformen ab, Platons Idealstaat ist vollkommen und gut. Er ist der platonischen Idee des Guten unterworfen, welche die Bedingung für die Vernunft, das rationale Denken und Handeln, darstellt. Der Staat ist gut, wenn er die Tugenden Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit vereint. Nur in dieser Vereinigung, die nur die Vernunft herstellen kann, ist der (ideale) Staat gut.
Der gute Staat basiert auf der Arbeitsteilung, die sich aus den natürlichen Anlagen der Menschen zu verschiedenen Tätigkeiten ergibt und durch Vertrag. Die Philosophenkönige, die die Idee des Guten gesehen haben und daher vernünftig handeln können, entscheiden, zu welchem Stand ein Junge oder Mädchen gehören wird. So entstehen drei Stände, der Stand der Regierenden (Philosophen), der Stand der Krieger (Wächter) und der Stand der Bauern und Handwerker. Der Staat ist weise durch die Weisheit (Vernunft) der Regierenden. Tapfer ist er dank der tapferen (mutigen) Wächter. Besonnen (gemäßigt oder genügsam) ist der Staat durch den Bauern- und Handwerkerstand.

Gerechtigkeit, so Platon, besteht nun darin, dass jeder das Seine und jede das Ihre tut, die Regenten also weise, die Wächter tapfer und die Bauern und Handwerker besonnen sind. Nicht alle Menschen erhalten die gleiche Erziehung. Bauern und Handwerker usw. bekommen nur eine Grundausbildung, Wächter und ihre Frauen werden länger ausgebildet, nicht jedoch so lange wie die Regierenden und ihre Frauen. Mittels der Vernunft des rationalen Seelenteils der Regierenden (Philosophen) lässt sich eine Vereinigung der drei Stände im Staat herstellen. Daher regieren die vernunftgeleiteten Philosophen. Die noch fehlende Tugend, die Gerechtigkeit, um die es in der Frage des Sokrates geht, besteht nun nach Platon darin, dass jede/r gemäß seiner/ihrer Anlagen und seines/ihres Standes, den Aufgaben nachgeht, die ihm/ihr eigen sind, und nicht etwa in unpassende Stellen drängt. Andernfalls widerfahre dem Staat Unheil in Form von Ungerechtigkeit.
Der kleingeschriebene Staat
Die Ausbildung der Männer und Frauen ist von Unterrichtungen in Musik und in Gymnastik geprägt. Ziel ist es, in allen Menschen eine innere Harmonie auszubilden. Platon bezeichnet den großgeschriebenen Menschen auch als kleingeschriebenen Staat, da die drei Seelenvermögen des Menschen den drei Tugenden der Stände entsprechen. So wie die Stände im Staat müssen die Seelenteile des Menschen in Harmonie zueinander stehen. Die Seelenteile des Menschen sind das Vernünftige, das Muthafte (Emotionale) und das Begehrliche. Der vernünftige Seelenteil lenkt die anderen Teile. Im Idealfall kommt der Vernunft (Weisheit) die Regentschaft über das Emotionale und das Begehrliche zu. Nur dann herrscht im Individuum Gerechtigkeit.
Bei Disharmonie der Seelenanteile kommt es zu inneren Konflikten, vergleichbar einer Empörung oder einer zerstörenden Krankheit. So wie es im Menschen zu innerer Ungerechtigkeit kommt, sobald die Vernunft (Weisheit) die übrigen Teile nicht mehr vereinigen kann, entsteht im Staat Ungerechtigkeit, sobald ein Stand die Überhand über den vernunftbegabten Stand der Regierenden (Philosophen) gewinnt.
In der „Politeia“ (VIII, 543 a-576 b) setzt Platon sich auch mit der Lehre von den faktischen Verfassungen und Ursachen auseinander. Sich wandelnde, reale Staaten tendieren nach Platon zur Entartung. Schlechte, ungerechte Staatsformen stehen im Kontrast zum gerechten und guten (Ideal-)Staat. Als beste, vorgefundene Staatsform gilt Platon die Monarchie (auch Aristokratie). Verfallsformen des Staates sieht Platon in der Timokratie, der Oligarchie, der Demokratie und der Tyrannis. Diese entarteten Staatsformen spiegeln jeweils bestimmte, nicht zur Einheit kommende Seelenverfassungen.
Ökonomie ohne Privateigentum
Laut Platon ist der Staat zur Erreichung des höheren Ziels der Gerechtigkeit da. Der Staat entsteht zum Zweck der Arbeitsteilung, da kein Mensch sich selbst genügen oder versorgen kann. Den platonischen Idealstaat prägen daher Arbeitsteilung und Spezialisierung, wodurch wirtschaftliche Effizienz erreicht wird. Privateigentum ist für Platon -kontraeffizient- und in seinem Staatsentwurf nicht vorgesehen. So wenig wie Menschen Güter eignen, gehören Frauen und Kinder jemandem. Im platonischen Idealstaat kennen Kinder ihre Eltern nicht, und Frauen haben keine fest zugehörigen Männer. Kinder und Frauen gehören Kriegern und Regierenden gemeinsam. Es gibt keine festen Bindungen. Für alle wird gesorgt, allen Mädchen und Jungen wird die in Grundzügen gleiche musische Ausbildung zuerkannt. Menschen und die Güter, die sie herstellen, gehören der Allgemeinheit. Auch Wohnraum ist in Platons Idealstaat allen zugänglich. Selbst die Wohnungen der Regierenden sind öffentlicher Raum. Jede Art Vermögen ist Gemeingut des Staates.
Idealstaat Internet?
Vergleiche zwischen Platons Idealstaat und der kommunistischen Staatsform sind oft gezogen worden. Doch in keinem kommunistischen System gingen Regierende bisher so weit, auf ihre Vorrechte und auf Besitz zu verzichten, wie Platon es gefallen würde, im Gegenteil. Daraus kann man ableiten, dass Platons Staatsmodell mit faktischen kommunistischen Staaten nicht und überhaupt (noch) nie vollständig verwirklicht wurde. Sollte man überhaupt, und gibt es überhaupt eine Chance, Platons Idealstaat in der Realität abzubilden? Wie sieht es mit der Umsetzung von Platons Staatsmodell im Netz aus? Ist das Internet oder sind Onlineunternehmen wie Google, Facebook, Twitter oder Saugstuben, deren Netzhandlungen (um nicht hier schon „Netzhandel“ zu sagen) sich um digitalen Güterverkehr ranken, bereits Vorstufen der (Im)materialisierung von Platons „Politeia“?
Onlineunternehmer (Regierende) machen den Nutzern (Menschen aller Stände) über ihre Plattformen (große Wohnungen) Content und User Generated Content (Güter) sowie Nutzerprofile (kleine Wohnungen) -quasigratis- zugänglich. Nur anscheinend beschenken sie die User. Gehören digitale Daten allen? Vollzieht sich die Umverteilung von Daten oder von digitalem Content nach Platons Vorstellung von Gerechtigkeit? Keineswegs. Die Regierenden im Netz, zuständig für die Umverteilung, sind alles andere als platonische Philosophen. Lenker der Onlinekonzerne und der zugehörigen Plattformen sind keine vernünftigen und gerechten Regierenden im Sinne Platons. Nanosekündlich produzieren sie Ungerechtigkeiten zwischen den Ständen. Sie erheben sich über die Wächter- und Handwerkerstände, indem sich unter dem Schleier der Offenheits- und Gratiskultur deren Daten bedienen, um mit ihnen Handel zu treiben. Das ganz unplatonische Ziel der Onlinekonzerne ist es, über den Handel mit Fremddaten Eigentum anzuhäufen.
Anders als im Idealstaat existieren im Netz Eigentumsverhältnisse. Auch wenn nicht alle Vertreter aller Stände Eigentum beanspruchen und viele User Daten zum freien Gebrauch ins Netz stellen, so profitieren vielleicht nicht sie, jedoch die Netzregenten ökonomisch von deren Nichtbeanspruchung. Was den denen einen Allgemeingüter sind, verwandeln andere in Wirtschaftsgüter und ziehen aus der Diskrepanz in der Definition wirtschaftlichen Nutzen. Aus unterschiedlichen Definitionen und Handlungsarten entstehen im Netz Marktverzerrungen und Rechtsunsicherheiten. Diese würde Platon als Krankheitssymptome oder Signale der Ungerechtigkeit diagnostizieren. Platon würde das Netz und Netzwerke als entartete Staaten bezeichnen. Disharmonien im Zusammenspiel der Onlinestände verhindern, dass im Gesamtgebilde Internet oder bei bestimmten Internetplattformen platonische Gerechtigkeit entsteht.
Es ist nicht verwunderlich, dass weder der Kommunismus, noch das Internet gerechte Idealstaaten verkörpern. Die Herausforderungen sind groß. Für seine „Politeia“ muss Platon eben auch allzu radikale Grundannahmen treffen. Zum einen nimmt er an, es gebe eine höchste Idee des Guten und zum anderen, dass alle Menschen dieser und den daraus abgeleiteten Ideen, auch der Idee der Gerechtigkeit, verpflichtet seien. Eine weitere, implizite Annahme Platons lautet: Alle oder keiner. Seine Ideenleere funktioniert nur, wenn ihr alle Folge leisten. Doch wie im Netz zu beobachten, gibt es unterschiedliche Ansichten in Bezug auf Definitionen von und die Umgangsweisen mit digitalen Gütern. Durch solche Disharmonien ergeben sich notwendigerweise wirtschaftliche Ineffizienzen sowie Ungerechtigkeiten.
Zur Fixierung des Alle- oder Keiner-Modells bedarf das Platonische System einer ordnenden Einheit. Platon nennt sie Vernunft und rechnet sie (ausgerechnet) dem Stand der Regierenden zu. Doch offensichtlich kann ja schon der kleine Staat, der Mensch, also auch der regierende, der philosophische Mensch, seine drei Seelenteile, nicht harmonisch zusammenbringen. Wie kann Platon da von den regierenden Philosophen verlangen, dass diese die Stände, alle Teile des Staates, unter einen Hut kriegt? Die beobachtbare, menschliche Unvernunft, auch die der Regierenden im Netz, verhindert die Evolution eines platonischen Idealstaats. Wohl niemals werden die Teile des Internet harmonisch zueinander angeordnet sein. Die Seelenteile der User sind es ja auch nicht.
Platons Entwurf in der „Politeia“ scheitert am Menschlichen im Menschen, seiner Unvernunft. Deshalb ist Platons Staat ja auch eine Idee. Platon hat nie behauptet, der Idealstaat sei beobachtbare Realität. Er weiß auch, dass die von ihm favorisierte Staatsform der Aristokratie, nicht gerecht und nicht ideal ist. Platon geht es in der „Politeia“ in erster Linie darum, Sokrates zu zeigen, was Gerechtigkeit ist. Darüber mit Platon nachzudenken, kann auch Staatlenkern, Internetregulatoren, -unternehmern und –nutzern nicht schaden. Platons Denken erfrischt.
Doch um das Funktionieren von Platons Gedankenarchitektur zu widerlegen, hätte man gar nicht bis zum Kommunismus oder zum Internet abschweifen müssen. Schon ein paar Jahre nach Erscheinen von Platons „Politeia“ machte sich Aristoteles daran, die Gedanken seines Lehrers philosophisch zu widerlegen. Seine Kritik an Platon bekräftigten viele, spätere Kollegen des Aristoteles, darunter Thomas von Aquin.

Aristoteles versus Platon
Aristoteles richtet sich mit seinem Werk „Politica“ (gr. Πολιτικά, dt. die politischen Dinge; entstanden im 4. Jh. vor Chr.) gegen das Wirtschaftsmodell seines Lehrers Platon. Aristoteles geht in „Politica“ bekanntermaßen vom Menschen als Zoon politicon (ζῷον πολιτικόν) aus. Nach Aristoteles gehört es zur Natur des Menschen, in Gemeinschaft zu leben. Nur im Staat kann der Mensch das gute Leben verwirklichen. Allerdings sieht er für das gute Leben in Gemeinschaften Über- und Unterordnungsverhältnisse vor. Er schreibt: „Wo immer Eines aus Mehreren zusammengesetzt ist und ein Gemeinsames entsteht, da zeigt sich ein Herrschendes und ein Beherrschtes, und zwar findet sich dies bei den beseelten Lebewesen aufgrund ihrer gesamten Natur“ (Pol. 1254 a 29-32). Im Staat des Aristoteles sind Frauen, Kinder und Sklaven den Herren unterworfen. Für Frauen sei es besser, von Männern beherrscht zu werden, weil ihre Urteilskraft schwächer als die männliche sei (Pol. I 5, 1254b10-15; I 13, 1259a12). Außerdem geht Aristoteles von der natürlichen Existenz von Sklaven aus.
Aristoteles postuliert zudem das Privateigentum als legitimen und festen Bestandteil des praktischen Lebens: „Zwei Dinge erwecken vor allem die Fürsorge und die Liebe des Menschen: Das Eigene und das Geschützte.“ (Pol. 1262 b 22-23) Für Privateigentum spricht, so Aristoteles, dass der Einzelne sich mehr um die Güter sorge als es die Gemeinschaft tun würde. (Pol. 1262 b 3) Mit dem Konzept des Eigentums gehen bei Aristoteles auch Rechtsansprüche an das Eigentum einher. (Pol 1263 a 15-16) In rechtem Maße dürfe jeder sein Eigentum genießen: „Es gehört auch zum Großartigen, sein Haus entsprechend seinem Reichtum einzurichten (denn auch dieser ist eine Zier) und vor allem für dauerhafte Werke Aufwendungen zu machen (denn diese sind die schönsten) und in allem das Angemessene zu beachten.“ (Nikomachische Ethik IV, 1123 a 6-10) Aristoteles sieht in einer angemessenen Besitzverteilung also eine wichtige Grundlage für eine den Anlagen des Menschen angemessene Staatsform.
Im Unterschied zum Idealisten Platon geht Aristoteles empirisch oder induktiv vor. So werden Platons Staatsideen von Aristoteles, und von der Realität sowieso (Kommunismus, Internet), überrollt. Doch muss auch Aristoteles bestimmte philosophische Annahmen treffen, damit seine Theorie aufgehen kann. Beispielsweise setzt er das (zu seiner Zeit) Beobachtete, etwa die Sklavenhaltung, dem Natürlichen gleich, um daraus Thesen abzuleiten.
Dinge beobachten und Thesen aufstellen, können wir auch. Daher ist die platonische Ideenlehre zum Zweck der Frage nach Internetregeln oder sozialen Normen im Netz die theoretisch interessantere und obendrein nutzenversprechendere. Die Inspiration, die Platons „Politeia“ liefert, liegt in der Verpflichtung der Mitglieder einer Staats- oder Onlinegemeinschaft auf eine gemeinsame Idee des Guten, folglich einer Vorstellung des Vernünftigen und des Gerechten. Diese geteilten Konzepte könnten sich als geschriebene oder ungeschriebene soziale Norm(en) manifestieren. Wollte man daraus konkrete Regeln ableiten, böte sich nach dem Modell Platons eine Regelhierarchie an. Aus der Idee des Guten ließen sich, analog zur Ableitung von Unternehmenszielen aus Mission Statements, (netz-)gesellschaftliche Wertsätze, Bestimmungen und Ziele deduzieren. Diese würden unterhalb der Idee des Guten in eine Ordnung gebracht und in ein Regelsystem überführt werden können. Als höchster, gemeinsamer Nenner würde die Idee des Guten das Denken, Definieren und Handeln innerhalb einer Gemeinschaft überstrahlen. Die Umsetzung der Idee des Guten und der Tugend des Gerechten würde nicht einer Kleingruppe von vermeintlich vernünftig Regierenden (1%) überlassen. Alle Stände (1% + 99%) würden die Idee des Guten verfolgen. Sie diente allen als mahnendes, gleichwohl glänzendes Ziel.
Literatur
Platon: Sämtliche Dialoge, übersetzt von Otto Apelt, Leipzig 1916–1937 (1.–3. Auflage), unveränderter Nachdruck in sieben Bänden: Felix Meiner Verlag, Hamburg 2004.
Aristoteles: Politik. Band 9 der Werke in dt. Übersetzung, Hg. Hellmut Flashar, Akademie Verlag, Berlin ab 1991.
TExt gespiegelt hier: http://blog.respublica.org/?p=271
