Die internationalen Unterhändler nennen ihr geplantes Handelsabkommen in doppelter Negation ACTA: Anti-Counterfeiting Trade Agreement. Die deutsche Übertragung ist noch eindeutiger darin, seine verschwurbelte Ungenauigkeit zu unterstreichen: Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen. Ziel der umstrittenen Rahmenregelung ist die Eindämmung von Urheberrechtsverletzungen und Produktpiraterie auf internationalem Terrain. Nun liegt ACTA, an dem bereits seit dem G8-Gipfel in Sankt Petersburg im Jahr 2006 laboriert wird, vorläufig auf Eis, und da soll es erfrieren.
Schon TRIPS, der Vorläufer von ACTA, ist fragwürdig. Das “Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights”, kurz TRIPS, ist ein internationales Abkommen zu handelsbezogenen Aspekten der Rechte an geistigem Eigentum. TRIPS definiert Minimalanforderungen für nationale Regeln im Bereich von Immaterialgütern wie Rechten, Patenten, Lizenzen oder Rezepturen. Wichtigstes Ziel von TRIPS ist die Gewährleistung internationaler Warenflüsse. Damit die Waren, die rechtmäßig über internationale Grenzen hin und her fließen, jederzeit ungestört fließen können, will TRIPS dafür sorgen, dass individuelle Maßnahmen und Verfahren zur Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums keine Beschränkungen darstellen. TRIPS wurde gleichzeitig mit der Ablösung von GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) durch die WTO (World Trade Organization) am 15. April 1994, gegen Ende der so genannten Uruguay-Runde, beschlossen. Federführend bei der Herbeiführung des TRIPS-Abkommens sind 13 US-amerikanische Konzerne, die der Weltgemeinschaft den Zusammenhang von Freihandel und geistigen Eigentumsrechten einimpften. Die Konzerne, die sich 1994 “Intellectual Property Committee” nannten, waren: Bristol Myers, DuPont, General Electric, General Motors, Hewlett Packard, IBM, Johnson and Johnson, Merck & Co., Inc., Monsanto, Pfizer, Rockwell International und Time-Warner. Welches dieser Unternehmen interessiert sich nicht für die Durchsetzung und den Schutz der eigenen Patente? Konzertiert und proaktiv und sorgten diese Konzerne mit höchst unterschiedlichen Geschäftsmodellen dafür, dass die Einkünfte aus ihren Rechten sicher in die eigenen Taschen flossen.
Nun will also eine ähnliche Liga ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) durchsetzen. Wie TRIPS soll ACTA zu einem multilateralen und völkerrechtlich verbindlichen Handelsabkommen werden. Unterschreibende Nationen und Staatenbünde wollen via ACTA internationale Standards einführen, die es ihnen ermöglichen gegen Produktpiraterie und gegen Urheberrechtsverletzungen vorzugehen. ACTA ist vage gehalten, damit die einzelnen Unterzeichnerstaaten ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen. Sie können also mehr oder weniger drakonische Regeln daraus ableiten. Möglich wäre es für Deutschland zum Beispiel deutsche, musikstreamende Privatpersonen strafverfolgen zu lassen.
Die vorläufige und wahrscheinlich langfristige Abschmetterung von ACTA ist ein Sieg der Internetaktivisten und intelligenter Analysten weltweit. Sie ist ein Sieg, weil hierbei der gesunde Menschenverstand den ungesunden Politikverstand korrigiert. Folgende zwei Hauptargumente sprechen für die ACTA-Gegner und die Schredderung von ACTA in der jetzigen Form.
a) ACTA behandelt Rechte aller Art unterschiedslos, oberflächlich und vernebelnd. Die ACTA-Gegner kritisieren das Offensichtliche, dass innerhalb des ACTA-Textes Äpfel, Birnen und noch mehr zusammen geschmissen werden. ACTA wirft Patente, Lizenzen, Rezepturen und Urheberrechte oder kommerzelle und nicht-kommerzielle Verwertungsweisen von Rechten in eine politische Suppe, die die Einzelstaaten verfeinern sollen, damit die Bevölkerung sie dann auslöffelt. ACTA umfasst Produktfälschungen und digitale Rechtsverletzungen ohne auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und Usancen in der physischen und digitalen Welt und innerhalb der Welten einzugehen.
Es mag sein, dass Patentdiebe und einzelne illegale Plattformbetreiber durch ACTA zur Rechenschaft gezogen werden können. Doch insbesondere das ACTA-Kapitel, das digitale Copyrights betrifft, ignoriert die organisch entwickelte und sich entwickelnde, weitgehend sich selbst regulierende Netzkultur, wozu die Kultur des Teilens zählt. Dass im Netz neue ökonomische Bedingungen geschaffen wurden, die neuartige Copyright-Regeln verlangen, wird von der politischen Altherrenriege aus Unwissenheit und von den die Politiker flankierenden Konzernvertretern (Lobbyisten) bewusst ignoriert, weil hier überkommene Regeln in eine neue, digitale Umgebung herüber gerettet werden sollen.
Die Onlinegemeinde sieht in ACTA einen Türöffner zu weltweit abgekarteter Internetzensur und eine Innovationsbremse. Auch die Beschränkung der Verbreitung bestimmter Patente, die geeignet sind, Saatgut und Arzneien insbesondere an ärmere Länder weiterzugeben, wird von Anti-ACTA-Aktivisten scharf kritisiert. Man könnte ACTA im derzeitigen Zustand auch übersetzen mit “All Copyright Issues Treated As One (dt. Alle Rechte sind im Grunde ein und dasselbe)”.
b) Die Königs- und Rahmenkritik an ACTA ist die, dass ACTA, ähnlich wie TRIPS, hinter verschlossenen Türen auf den Weg gesetzt wurde. Ein Gesetz, das Politiker und Konzernvertreter an Bürgern vorbei verabschieden will, die vom Thema mehr verstehen, ist nicht ungeschickt, sondern dumm. An den Gepflogenheiten von Bürgern und Usern vorbei zu regulieren, negiert Realitäten, die sich längst (z. B. im Netz) manifestiert haben. Endlich haben Regeln, die Bürger ignorieren, (wiederum dank des Netzes), keine Chance mehr, ernst genommen zu werden und organisieren Bürger (dank des Netzes) schlagkräftigen, internationalen Widerstand.
Das Einfrieren des ACTA-Abkommens ist ein Sieg der Demokratie auf internationaler Ebene. Der Sieg der Aktivisten zeigt einmal mehr, dass internationale Abkommen und insbesondere Abkommen zu Digitalthemen auf Multistakeholder-Ebene erfolgen müssen, wenn ihre mühsamen und kostenintensiven Vorarbeiten und Konferenzen keine ergebnislose Ressourcenverschleuderungsveranstaltung sein sollen. Internet- und Urheberrechtsregeln betreffen Menschen weltweit. Also muss der Dialog darüber international erfolgen und die drei betroffenen Gruppen: Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (i. d. R. vertreten durch Nichtregierungsorganisationen) an einen Tisch bringen. Ein Multistakeholder-Dialog ist der einzige Weg, um der Komplexität von Wirtschaftspolitik genügend komplex und zielführend zu begegnen.
Die ACTA-Kontroverse könnte diesen notwendigen Multistakeholder-Dialog anstoßen. ACTA ist zwar nicht der leichteste Anfang, um ein neues Demokratieverfahren zu testen, aber ein inhaltlich und formal langfristig lohnender.