Ein Mädchen dreht sich zu ihren beiden Freunden und erklärt: „Also ich habe die Piraten gewählt.“ „Hast du, ach so.“ „Und wisst ihr was mein Vater eben am Abendessenstisch gesagt hat, ich erzähle so, dass ich die Piraten gewählt habe, da sagt mein Vater, ich auch.“ „Krass.“ Der Dialog fand am Sonntag, dem 18.9.2011, in der Nacht nach den Abgeordnetenhauswahlen in der Berliner U2 statt. Abgesehen von dem Nebensatz über den Vater gaben an dem Tag wohl viele junge Menschen über ganz Berlin verteilt ähnliche Bekenntnisse ab.
Immerhin haben 8,9% der Berliner Wähler die Piratenpartei gewählt. An zwei Wahlstellen im Berliner Bezirk Friedrichshain wählten sogar um die 20% die Partei mit dem Flaggenlogo. Im Durchschnitt 14,7% Bewohner von Friedrichshain-Kreuzberg und in Pankow immerhin 10,5% entschieden sich für die Piratenpartei. Man weiß, dass in Friedrichshain Studierende und sehr junge Eltern leben. Außerdem gibt es Berechnungen darüber, die zeigen, dass die meisten Piratenwähler unter 30 Jahre alt sind. Im konservativeren und eher von einer älteren Generation bewohnten Steglitz-Zehlendorf kamen die Piraten „nur“ auf einen Stimmenanteil von 6,4%.
In Berlin zieht die Piratenpartei nun erstmals in das Parlament eines deutschen Bundeslandes ein. 15 (fünfzehn) Sitze des Abgeordnetenhauses dürfen die Piraten legal entern. Keiner von der FDP wird mit ihnen im Haus sitzen, dafür Vertreter von SPD, CDU, den Grünen- und der Linken. Die Piraten wurden also beauftragt, Politik zu machen. Andreas Baum, der Berliner Spitzenkandidat der Piraten, erklärte gleich nach den ersten Hochrechnungen in der ihm eigenen, unverschnörkelten Sprache: „Wir gehen jetzt in die Arbeit rein. Wir werden von uns hören lassen.“ Eine App zur Messung des Berliner Schuldenstands hatte Baum bereits nach seinem Eingeständnis der Ahnungslosigkeit über eben denselben entwickelt.
Warum haben so viele Wähler für die Piraten gestimmt? Was wollen sie mit ihrer Stimme sagen? Und was erwarten sie? Haben 8,9% die Piratenpartei gewählt, weil die Partei sich mit Internetstrukturen auskennt, klare Forderungen bezüglich bedingungsloser Grundeinkommen, Copyrights und Patenten vertritt und dem Volk die Staatsgewalt zurückgeben will? Trauen die Piratenwähler ihren Vertretern zu, dass sie dieseThemen verteidigen können? Glauben die Wähler zudem, dass die Piraten sich rasch in all die anderen, offlineigeren Themen einarbeiten und neue Konzepte zum Wählerwohlgefallen durchsetzen können?
Wählten die 8,9% proaktiv oder vielmehr aus Überdruss die Piratenpartei? Waren die Abwanderer von anderen Parteien (auch die SPD verlor Stimmen an die Piraten) nicht vor allem Protestwähler? Dachte der Vater des U2-Mädchens an seinen Nachwuchs oder an sich, als er sich für die Piratenpartei entschied? Dass er die Piraten wählte, damit sein Spross kostenlos U-Bahn fahren und jenseits der Augen der Polizei demonstrieren kann, ist eher unwahrscheinlich. Aber fühlte er sich selbst von den Jungs auf den senfgelb-weiß-schwarzen Wahlplakaten repräsentiert? Oder war er vielleicht ein Protestwähler?
Wir wissen es nicht. Wir wissen bloß, dass das auf Understatement frisierte On- und Offline-Marketing genial funktioniert hat und dass das schmale und noch grob geschnitzte Parteiprogramm einen Berliner Nerv getroffen hat, der sicherlich nicht lange allein Berlin vorbehalten bleibt. Der Nerv liegt frei. Ältere und Jüngere protestierten in ihrer Wahlzelle höchstwahrscheinlich zumeist gegen Bürgerferne und gegen politische Machtspiele.
Mit den Piraten wurde keine Partei, sondern eine neue Form von Politik gewählt. Diese gewünschte, neue Politik ist authentisch, jung, sie lügt nicht und denkt und lebt in communities, statt in Machtzentralen. Sie nimmt den Bürger ernst, hört ihm zu und bezieht ihn in Gestaltungsprozesse ein – über das Internet und über offene Schnittstellen. Diese Politik ist aktiv und interaktiv. Die Piratenpartei selbst gab zur Ursache ihres Erfolges folgende Einschätzung ab: „Das Votum der Wähler zeigt, dass der Bürger sich in Zukunft transparent, themenorientiert und basisdemokratisch direkt am politischen Geschehen der Hauptstadt Deutschlands beteiligen will.”
Politik von Menschen wie du und ich für Menschen wie dich und mich wünschen sich 8,9% der Berliner Wähler. Sie wollen etwas anderes als klassische Parteienpolitik, ohne zu wissen, was das genau wäre. Die Piraten wissen das vielleicht etwas besser. Sie gehen davon aus, dass ihre Wähler ernst genommen und in die Politik einbezogen werden wollen, dass authentische Köpfe und direkte Worte statt Machtgehabe und Schwurbelsätze gefragt sind. Das Problem ist allerdings, wie und ob die Piratenpartei neue Formen bürgernaher Politik umsetzen kann. Die Piratenpartei selbst ist schließlich nicht hierarchiefrei und entfernt von Macht- und Muskelspielen. Der Frauenanteil innerhalb der Partei ist zum Beispiel noch geringer als der in der Piratenwählerschaft. Susanne Graf, einstige Chaos Computer Club (CCC)-Aktive, ist die einzige Frau auf der Landesliste. Und die Piraten verzeichneten den höchsten Anteil männlicher Wähler bei den Berliner Wahlen. Neuen Personen und Impulsen darf die Partei sich nicht verschließen. Das Parteiprogramm bedarf einer Ergänzung, Überarbeitung und Konkretisierung. Auch wünscht man sich eindeutige Aussagen zur Art, wie Bürger ins Boot der Piratenpolitik einsteigen könnten. In Berlin wählten 8,9% das offene Prinzip, das Nette, das Unfertige, die Verlaufsform. Die Piraten wurden auf See geschickt, sie haben ihre Chance.
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