Seltsame Dinge passieren in “Mulholland Drive”.
Der neue David Lynch: In “Mulholland Drive – Straße der Finsternis” zeigt der Verfechter der Zwei-Welten-Theorie einmal mehr aufs Brillanteste, was real sein könnte und was irreal scheinen mag … Gisela Schmalz über den Lynch-Kosmos. In: Fluter.de (bpb), Januar 2002.
“It’s strange world.” Fast in jedem David-Lynch-Film sagt jemand diesen Satz. Und wenn ihn keiner sagt, spürt der Zuschauer in jeder Filmminute, was er bedeutet. Seltsame Dinge passieren seltsamen Leuten. Lynchs Ängste, Visionen, seine Obsessionen und sein Witz treiben ihn dazu an, seit 30 Jahren immer wieder neue bizarr-schöne Filmwelten zu schaffen.
Die Welt seines aktuellen Films “Mulholland Drive – Straße der Finsternis” ist Los Angeles, die Stadt der Filmsternchen und anderer Wahnsinniger. Eine dunkelhaarige Frau (Laura Elena Harring) verliert nach einem Autounfall ihr Gedächtnis und findet sich zufällig in der Wohnung einer blonden Jungschauspielerin (Naomi Watts) wieder. Beide wundern, aber mögen sich und verlieben sich sogar ineinander. Die Schauspielerin hilft der Gedächtnislosen dabei, ihre Erinnerungen wiederzubeleben. Nachdem sie lange im Dunklen getappt sind, findet die Schauspielerin in der Tasche der Gedächtnislosen einen blauen Schlüssel. Sie steckt ihn in die zugehörige Box, und ihr eröffnet sich eine neue Welt. Und dem Zuschauer verschwimmt alles, was er je über Raum und Zeit und über lineares Geschichtenerzählen wusste.

David Lynch kennt beide Welten, die reale und die irreale, und beide gleich gut. Seit seiner Jugend erforscht er den Sinn und Unsinn des Lebens. Als seine Herkunftsdaten gibt er nur vier Worte an: Eagle Scout Missoula Montana. David Lynch kam im Januar 1946 in Missoula Montana auf diese seltsame Welt. Er machte zunächst als Eagle Scout, als hochrangiger Pfadfinder, Karriere. Dann studierte er an der Kunstschule Malerei und drehte zwischen 1967 und 1970 drei Kurzfilme, die ihm ein Stipendium des American Film Institute (AFI) einbrachten.

Lynch zog nach Los Angeles. Am AFI produzierte er seinen ersten Langfilm: “Eraserhead” handelt von Henrys Begegnung mit Mary, die ein glibbriges Geschöpf geboren hat, eigentlich nur einen ekligen Kopf, der futtern und spucken kann. Vor Drehbeginn versammelte Lynch seine Freunde – die ihn sein weiteres Filmleben lang als Tonmann, Kameramann oder Schauspieler begleiten sollten – um ihnen Billy Wilders “Sunset Boulevard” zu zeigen. Lynch wollte für sein surrealistisches Machwerk genau diese Stimmung haben. Und es gelang dem Team mittels ausgeklügelter Ton- und Bildeffekte, mehreren Budget-Erhöhungen und vier Jahren Drehzeit einen Kultfilm zu kreieren. “Eraserhead” war spannend, mysteriös und komisch, etwas, das man in der Kombination noch nicht gesehen hatte.
Lynchs erste Auftragsproduktion “The Elephant Man” war, wie “Eraserhead” und die frühen Kurzfilme, auf Schwarz-Weiß-Material gedreht. Lynch erzählt hier die Lebensgeschichte eines Mannes voller Wucherungen am Kopf, eines Außenseiters, der sich in einer fiesen Umwelt seine Herzenswärme und Würde bewahrt.

Ein wirtschaftlicher Flop wurde Lynchs Science-Fiction-Epos “Dune”. Zwar bot der Kampf der Planeten um eine lebensverlängernde Essenz Lynch viel Spielraum für schräge Szenen und stilistische Fingerübungen. Aber das Ergebnis wirkt überladen. Als “Dune” für die Fernsehfassung 1988 stark gekürzt wurde, zog der Regisseur seinen Namen zurück. Beim Dreh von “Dune” begegnete Lynch Kyle MacLachlan. Lynch sah in dem Jungdarsteller sein Alter Ego und gab ihm gleich in seinem nächsten und wichtigsten Film, “Blue Velvet”, und in seiner erfolgreichen TV-Serie “Twin Peaks” die Hauptrolle.

Den letzten Schritt in seine Welt hinein vollzog Lynch mit “Blue Velvet”, der zu dem Film der 80er-Jahre wurde. Jeffrey (MacLachlan) freundet sich mit Sandy (Laura Dern), der netten blonden Tochter des örtlichen Polizeichefs, an, verliebt sich jedoch parallel in die Nachtclubsängerin Dorothy (Isabella Rosselini). Als er diese vor dem perversen Verbrecher Frank (Dennis Hopper) beschützen will, bringt er sie und sich in Lebensgefahr. Obwohl Jeffrey in seinem sicheren, sauberen Zuhause durchaus zufrieden sein könnte, begibt er sich in eine besudelte, düstere Unterwelt. In Form von Gegensatzpaaren schildert Lynch Jeffreys Zwiespalt und entfaltet damit zugleich seine eigene Zwei-Welten-Theorie. So schwankt Jeffrey zwischen hell- und dunkelhaariger Frau, privatem Heim und Dorothys finsterem Apartment, seiner Sympathie für den Polizisten und seiner Faszination für den Verbrecher und schließlich zwischen der eigenen Bereitschaft zu Zärtlichkeit und Gewalt. Obendrein setzt Lynch Bild und Ton in Kontrast zueinander. Die von Angelo Badalamenti bearbeiteten romantisch-kitschigen Songs “Blue Velvet” oder “In Dreams” untermalen Franks ultrabrutale Aktionen und die ängstlichen Gesichter von Jeffrey und Dorothy. Erst dann, wenn Gutes und Böses, Bewusstes und Unbewusstes unmittelbar aufeinandertreffen, ist die Lynch’sche Welt rund.

Ein Thrill jagt den nächsten im Roadmovie “Wild at Heart” von 1990, in dem ein bis zur Besessenheit verliebtes Paar seine Liebe gegen Eltern, Polizisten, Drogenhändler und Mörder durchsetzt. Nachdem Lynch 30 “Twin Peaks”-Fernsehfolgen und einen “Twin Peaks”-Film als Produzent und zum Teil auch als Regisseur höchst erfolgreich verantwortet hat, liefert er 1997 wieder einen echten Lynch ab. In “Lost Highway” spielt Lynch wieder mit Verkleidungen, Namensschildern, Perücken, düsteren Räumen, mit Feuer und Blut, dem Zwillingsmotiv oder dem Motiv der Höllenautofahrt auf einem Highway.


Neu ist die Erzählweise. “Lost Highway” hat dieselbe unlogische Brezel-Struktur wie “Mulholland Drive”. In beiden Filmen wird die Handlung unterbrochen, und beginnt noch einmal neu, ganz woanders und mit anderen Charakteren. Das Zuschauerhirn muss arbeiten, wenn es begreifen will, wieso in “Lost Highway” Ehemann Fred auf einmal Pete heißt oder die brünette Ehefrau Renee auf einmal die blonde Edelnutte Alice ist. Wenn Lynch nun seine Story aufbricht, macht er endlich auch auf formalem Wege klar, dass es zwischen Himmel und Erde mehr als nur die Ratio gibt.
Verblüffend ist daher, dass Lynch danach, 1998, “The Straight Story” dreht, einen straight erzählten Film über einen alten Farmer, der auf einem Traktor quer durch Amerika fährt, um seinen Bruder zu besuchen. Hier gibt es nichts Mysteriöses, nichts Böses, keine Brezel, einfach nur die Reise eines alten Mannes. Lynch ist unberechenbar und vielseitig. Neben seiner Arbeit am Filmset betätigt er sich außerdem als Familienvater, Maler, Möbelbauer, als Film- und Platten-Produzent, Schauspieler und Autor. Bereits 1992 begann Lynch am Skript von “Mulholland Drive” zu arbeiten.
Über zehn Jahre hinweg konzipierte Lynch seinen Film mit der größten Komplexität, in dem endlich auch sein Humor voll heraus kommt. Wer in die Lynch-Welt eintauchen will, sieht sich “Mulholland Drive” an und sitzt mittendrin.


Mulholland Drive, USA 2001, Buch und Regie: David Lynch, mit Naomi Watts, Laura Elena Harring, Justin Theroux.
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Recommended Citation: Schmalz, Gisela: “It´s a Lynch World” (2025). https://www.giselaschmalz.com/its-a-lynch-world/
Erstabdruck: Schmalz, Gisela. “It´s a Lynch World” In: Fluter.de (bpb). Januar 2002.
Photos: Cinepsis, TMBD, Emaze, Rollingstone, Filmscultes, Facts.net, Janusfilms
© Gisela Schmalz, 2025