Reflexion, Instinkt, Reflex

– zu Max Horkheimers Ampel-Prognose

Am Symbol der Ampel illustrierte Max Horkheimer 1969, wie er sich das Verhalten von Menschen in einer zukünftigen, technisierten Gesellschaft vorstellte. Im Interview mit Helmut Karasek für das öffentlich-rechtliche Fernsehen sprach Horkheimer, Gründungsmitglied und “Chefmanager” der Frankfurter Schule, von „der notwendigen Entfaltung der Technik“ und der „Notwendigkeit“ von Technik überhaupt.

Doch, ganz Dialektiker, sah Horkheimer auch die Schattenseiten der Technik – und beleuchtete eine an seinem Ampelbeispiel.

In einer technisierten Welt, so Horkheimer, lernten Menschen „in ihrem Leben wesentlich auf Zeichen zu reagieren. Als Symbol pflege ich da einfach an den Übergang über die Straße zu erinnern. Früher ging man über die Straße und hat rechts und links geschaut, hat sich überlegt, kann ich jetzt noch hinüber, und hat dann die Entscheidung getroffen. Heute wartet man auf das grüne Licht, und wenn das rote Licht kommt, bleibt man stehen – das wenigstens im Allgemeinen.

Es gibt natürlich auch hier immer Ausnahmen. Aber das könnte soweit sich entwickeln, dass derartige Reaktionen in die Substanz des Menschen übergehen, und dass er gewissermaßen ohne Überlegung einfach glatt bei Rot stehen bleibt – also eine rationale Verhaltensweise, die ihn aber, in gewisser Weise dann zum Instinkt geworden, der tierischen Reaktionsweise näherbringt.“

Horkheimer meinte also, dass das Reagieren auf Symbole „in die Substanz des Menschen übergehen“ könnte. Was einmal gesellschaftlich, bzw. technologisch rational geregelt wurde und dann zu so etwas wie: „Bei Rot musst Du stehen, bei Grün darfst Du gehen“ oder zum Rotlicht, kondensiert wurde, wird einmal oder gar nicht als „rationale Verhaltensweise“ von Menschen (an-)erkannt und dann „zum Instinkt“. Die Regel verselbständigt sich. Verdinglicht zum Symbol steht sie den Menschen gegenüber. Sie wirkt wie ein Reiz, der einen Reflex auslöst.

Laut Horkheimer reagieren Menschen auf symbolische Reize wie Tiere, „instinktiv“. Sie sparen sich den Aufwand, über Sinn und Unsinn, Zweck und Manipulationsziel einer zum Symbol geschrumpften Regel nachzudenken.

Der Kontrast zwischen Instinkt und Nachdenken erinnert an die These von Daniel Kahnemann in seinem Buch “Thinking, Fast and Slow” von 2011. Er unterscheidet zwei Systeme, nach denen das menschliche Gehirn angeblich operiert: System 1 beschreibt schnelles, emotionales und unbewusstes Denken und System 2 langsames, berechnendes und bewusstes Denken.

Kahnemann bezieht diese Systeme jeweils auf menschliches Denken. Vom Denken war Horkheimer längst abgerückt. Er sprach nur von Reagieren (ähnlich System 1) im Unterschied zum Denken oder Reflektieren (System 2).

Horkheimers Verhaltensdiagnose und die Ampelsymbolik leuchten ein. Viele wissen heute eher, wovon der Mann 1969 sprach, als dessen damaligen Zeitgenossen. Wir haben ja inzwischen digitale Instrumente, bewegen uns in analog-digitalen Sphären und sind ständig mit Symbolen konfrontiert, und wir reagieren auf diese. Wir re-agieren.

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Aber so wie Tiere, wie Horkheimer voraussagte? Tiere hätten Instinkte. Diese würden womöglich auch mal Gefahren oder zumindest ein Unbehagen anzeigen. Dergleichen ist beim Menschen am vernetzten Gerät aber nur selten zu beobachten. Menschen reagieren spontan auf digitale Symbole, Trigger, Vorschläge usw.. Einmal erlernte digitalbasierte Bewertungs-, Bestell-, Upload-, Download-, Such-, Prompt- oder sonstige Vorgänge führen sie habituell und teils völlig gedankenlos durch. Beim Umgang mit vertrauten, digitalen Mitteln setzt beim Menschen beides aus, Denken und Instinkt.  

Hier hinkt Horkheimer´s Tieranalogie. Um digitale Technologien immer schneller und erfolgreicher nutzen zu können, sparen Menschen sich die Umwege über Hirn, Verstand oder Instinkte. Bei ihnen schleift sich das passende, kognitive, emotionale, sinnliche und haptische Reagieren ein. Sie passen sich den Erfordernissen der Technologien an. Dabei machen sie sich zu Verlängerungen der Maschinen (extensions, laut Marshall McLuhan). Menschen verhalten sich, wie die Digital-Werkzeuge, die sie ständig nutzen, um sie immer besser nutzen zu können.

Sie re-agieren weniger wie Tiere, als wie die Digitaltechnologien selbst – nicht tierisch-instinktiv sondern quasi-automatisch auf digitale Trigger.

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Paradoxerweise entstammt solch “automatisiertes” Verhalten teilweise der ratio. Menschen streben in einer komplexen, digitalgeprägten Gesellschaft nach Effektivität, nach rascher Erledigung und größtmöglicher Bedürfnisbefriedigung, wobei sie versuchen, unnötige Anstrengungen, Zeitverluste und Umwege zu vermeiden. Es scheint rational zu sein, sich der Bequemlichkeiten, Erkenntnisse oder Unterstützung durch Digitaltechnologien zu bedienen – ohne dabei nachdenken oder fühlen zu müssen.

Horkheimer sah auch die hellen Seiten der Technik. Aufgrund seines Vergleichs des Menschen mit dem Tier fragte ihn der Interviewer Karasek 1969 auch danach, was er von der Technikkritik, der „Denker heute“, also einiger seiner Zeitgenossen, halte, ob denn deren „totale Gegenutopie einer wieder endtechnisierten Welt“ einen „reellen Kern“ oder eine „Chance“ besäße.

Horkheimer: „Das meine ich nicht. Denn ich bin schon der Überzeugung das in einer Gesellschaft wie der unsrigen sehr viel Schlimmes durch eine weitere Entwicklung der Technik vermieden werden kann oder gar der Rückfall, der würde viel Schlechtes mit sich bringen. Daran ist wohl gar nicht zu zweifeln.“

Das glauben wir heute von den Digitaltechnologien/KI auch, selbst wenn wir unser Nutzungsverhalten an deren Funktionsweisen anpassen und dabei unser Denken, Handeln oder Fühlen verändern, womöglich vernachlässigen und dabei mental, sinnlich oder sonst wie verarmen. Wenn wir digitale Intrumente nutzen, so verändern und trainieren wir diese, genauso wie auch wir uns dabei verändern und trainiert werden. Während konventionelle Ampelsysteme bloß etwas signalisieren, involvieren digital geprägte Infrastrukuren den Menschen. Dabei wird er zu einem Element eines Reiz-Reaktions-Reiz-Systems und bekommt als solches Schwierigkeiten, zum System eine Distanz zu finden.

Das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Signal und (möglicher) Bedeutung bleibt. Und rote Ampeln warnen noch heute.

Empfohlene Zitierweise / Recommended citation: Schmalz, Gisela: “Reflexion, Instinkt, Reflex” (2025). Gisela Schmalz: https://www.giselaschmalz.com/reflexion-instinkt-reflex/