Die Misogynie nimmt weltweit zu. Offline und online metastasieren Netzwerke, in denen frauenfeindliche Ideologien propagiert und der Feminismus sowie eine liberale Gesellschaftsordnung abgelehnt werden. Dominiert werden sie von Männern, darunter nicht nur “Incels“, „Pick-Up-Artists“ oder „Men’s Rights Activists“. Ein weltweiter politischer Rechtsruck, die US-Wahlen Ende 2024, Wirtschaftskrisen und Kriege lassen Männlichkeitsprobleme in eine abwertende Sprache (siehe X), in Gewaltphantasien und psychische und physische Gewalt umschlagen – auch und vor allem gegenüber Frauen. Um die US-Regierung gegen woke-Initiativen einzuschwingen, sollen unter Präsident Trump in Behörden Hunderte von Wörtern “reduziert oder vermieden” werden, darunter:
- female
- females
- feminism
- breastfeed und
- women, was aus einer Liste hervorgeht, die The New York Times einen Tag vor dem Frauentag im Jahr 2025 (21. Jahrhundert) veröffentlichte.
Wie fortschrittlich eine Gesellschaft ist, zeigt sich an der Situation der Frauen. Seit 1911 gibt es den Internationalen Frauentag. Doch die Anliegen sind heute dringend wie damals: Gleichberechtigung, Wahlrecht, Anrecht auf öffentliche Ämter, Emanzipation und Anti-Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dass die Themen heute weiterhin im Süden, Norden, Osten oder Westen der Erde akut sind, und dass, egal wie reich oder wissenschaftlich fortschrittlich eine Gesellschaft ist, noch im 21. Jahrhundert Frauentage begangen werden müssen, ist skandalös. Dass jetzt das Thema Gewalt gegen Frauen als Kern-Anliegen hinzukommt, erschreckt.
In unterschiedlichen Ländern, Branchen und Kontexten gibt es feine bis grobe Unterschiede im Umgang mit Frauen. Sie eignen sich als Maß zum Vergleich von sozialem Fortschritt. Doch jeder Vergleich erübrigt sich, wenn das Mindset der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung so aussieht, wie es der 2023 veröffentlichte Gender Social Norms Index (GSNI) der UN zeigt. Demnach hegen über 90 Prozent aller Menschen weltweit Vorurteile gegen Frauen, mehr als bereits 2020.
Wie sein Titel besagt, misst der Index die Geschlechtervorstellungen, die als normal oder Norm erachtet werden. Im Rahmen des „United Nations Development Programme“ wurden Daten zur Gleichstellung von Frauen in den Bereichen Haushalt, Ausbildung, Politik, Beruf und Gesundheit in 75 Ländern erhoben. Gefragt wurde beispielsweise nach politischen Leitfiguren oder danach, wer eine bessere Ausbildung erhalten und mehr Geld verdienen sollte, Frauen oder Männer. Die für die UN-Studie gesammelten Meinungen und Haltungen belegen, dass das männliche Prinzip (weiterhin) als Maß fast aller Dinge gilt.
9 von 10 Frauen und Männern hegen Vorurteile gegen Frauen. Für 9 von 10 Frauen und Männern ist der Standard-Mensch männlich. Die meisten Menschen sehen das männliche Prinzip oder Männer als Norm oder als normal an. Und was normal ist, wird auch als gut, richtig und erstrebenswert betrachtet.
Diese Auffassung stärkt das Männliche in der Welt. Sie liefert einen Freifahrtschein dafür mit, alles abzuurteilen, was von der Norm = Mann abweicht. Was ihr entspricht, wird geachtet und nachgeahmt, und was nicht, wird in Wort oder Tat missachtet, abgewertet etc. etc.. Dieser logische Fehlschluss vom Ist- zum Soll-Zustand ist gängige Theorie, aber auch Praxis. Das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein.
25 Prozent der für den GSNI 2020 befragten Personen denken, ein Mann habe das Recht, seine Frau zu schlagen. Dieses „normale“ Denken bildet dann auch die Vorlage für „normales“ Handeln. So kommt es, dass der Anteil der Frauen an den Staats- und Regierungschefs seit 1995 im Durchschnitt bei etwa 10 Prozent liegt, und auf dem Arbeitsmarkt Frauen weniger als ein Drittel der Führungspositionen besetzen.
Jährlich erstellt das Forbes-Magazin die Liste “The World´s 100 Most Powerful Women”. Mit der Erstellung der Liste für 2022 wurden die Erfolge von Frauen gefeiert, aber gleichzeitig berechtigt gefragt: “Is Women’s Power In Peril?” Die Forbes Liste von 2024 führen vier Politikerinnen an. Angeführt wird sie von der deutschen Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen.
Frauen sind, so der GSNI qualifizierter und gebildeter als je zuvor, doch sogar in den 59 Ländern, in denen Frauen heute besser ausgebildet sind als Männer, beträgt das durchschnittliche Einkommensgefälle immer noch 39 Prozent zugunsten der Männer. Genau wie noch vor 100 Jahren arbeiten Frauen mehr als Männer, verdienen aber weniger. Zu breiten Macht- und Einkommensklüften gesellen sich andere, handfestere Schikanierungen sowie Misshandlungen von Frauen. Für fast jede Frau gehören sie in irgendeiner Form zum Alltag. Das Spektrum der Missachtung von Frauen ist breit und reicht von Ignoranz bis Gewalt. Und die Gewalt gegen Frauen nimmt nocheinmal zu, sobald ein Krieg ausbricht, wenn Männer entscheiden, sich mit anderen als friedlichen Mitteln zu streiten. Statt Kämpfe untereinander auszutragen, richten sie sich auch gegen Kinder und Frauen. Dabei dienen Verbrechen an Kindern und Frauen oft nur als Umweg-Gewaltakte, dazu, um sich an anderen Männern zu rächen. So wenig nimmt man die Leben von Kindern und Frauen ernst.
Keineswegs darf Schlechterbehandlung oder gar Gewalt als normal wahrgenommen oder in irgendeiner Weise akzeptiert werden. Frauen stellen 50 Prozent der Menschheit, und müssten rein rechnerisch zu 50 Prozent gleichgestellt sein – also weder aus humanitären Gründen noch aus Liebe zu den Frauen. Die Gründe dafür, Frauen gleichberechtigt zu behandeln, einzubeziehen und in verantwortlich Positionen zu bringen, sind auch praktischer Natur. Unterschiedliche Studien aus den letzten Jahren belegen, dass diverse, gender-gerechte Teams für Unternehmen bessere Ergebnisse erwirtschaften als homogene Teams.
In einer zunehmend komplexen Weltsituation werden alle Talente zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft benötigt. Nur inklusive Gesellschaften können umfassende und langfristige Fortschritte herstellen, statt bloß bereichsbezogene Fortschrittchen. Damit würde auch die Formel Fortschritt für alle Sinn ergeben und nicht bloß für einige gelten, und damit gar nicht.
Aktuell sehen wir wissenschaftliche und technologische Fortschritte. Aber die sozialen und moralischen Fortschritte hinken weit hinterher, weswegen man kaum von Fortschritt sprechen kann. Zu beobachten sind derzeit sogar Rückschritte – auch in sich avanciert wähnenden westlichen Bevölkerungen. Hier wächst die Verunsicherung. Wachsende Ängste vor sozialem und ökonomischem Abstieg, vor der Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch neue Technologien, vor Überwachung, Klimakatastrophen, Migrationsbewegungen, Epidemien und Krieg lähmen die Menschen oder reizen sie zur Aggressivität.
Zu der Sorge, dass ihnen etwas weggenommen werden könnte, addiert sich ein Ohnmachtsgefühl. Das kratzt am Selbstbewusstsein. Wer in depressiver Lage Ursachen und Wirkungen nicht begreifen kann oder nicht begreifen will, wer sich nicht zuerst selbst befragt oder in Frage stellt, externalisiert seine Ängste. Unzufriedenheit mit sich und der Welt äußert sich dann in Wut gegen andere.
Minderheiten und Menschen, die vermeintlich anders sind oder anscheinend höher oder niedriger gestellt sind, werden zu Sündenböcken gemacht: Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit anderer Meinung, Menschen mit anderer sexueller Orientierung und Menschen mit anderem Geschlecht.
Alles, was nicht als Norm definiert ist, darunter Frauen und das weibliche Prinzip (falls so etwas existiert), wird zum Wutablassen benutzt. Da Frauen überall und in großer Zahl verfügbar sind, scheinen sie sich hervorragend dafür anzubieten, um diffuse Ängste auszuagieren.
Und ausgerechnet eine Errungenschaft der Aufklärung und moderner Naturwissenschaften, der technologische Fortschritt, begünstigt derlei Regression. Bei Social Media-Plattformen steigt der Hate Speech-Pegel an. Incels („involuntary celibates”, unfreiwillig zölibatär lebende, heterosexuelle Männer), MGTOWs (Vertreter der anti-feministischen Männerbewegung „Men Going Their Own Way“), Alt-Right-Anhänger, Rechtspopulisten, Nazis und Kriegstreiber sondern online Dinge von Beleidigungen über Flüche bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen gegen Frauen ab. Sie erhalten dafür Zuspruch, und ihre Aufrufe werden zum Teil umgesetzt.
Je weniger menschenverachtenden Posts entgegengesetzt wird, desto öfter und vehementer werden sie geäußert und desto eher werden Verbrechen begangen. Im Netz wird vorbereitet, was in der Welt passiert. In demokratischen Gesellschaften werden Frauen bei Beförderungen übergangen. Hier wird Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, öffentliche Figuren sind und öffentliche Posten einnehmen, anonymisierter, unterdrückt-versteckter oder offener Hass entgegengebracht. In nicht-demokratischen Gesellschaften werden Frauen bevormundet oder eingesperrt. In Kriegsgebieten werden sie vergewaltigt oder umgebracht.
Sobald die Zeiten schwieriger werden, Ohnmachtsgefühle und Zukunftsängste das Denken und Handeln dominieren, bekommen Frauen das zuerst zu spüren. Das bildet auch der Women Peace and Security Index der Georgetown University für 2023/24 ab.
Frauen sind keine Opfer. Aber die Situation der Frauen kann als Spiegel dienen, dazu, die eigenen Ängste und das eigene Versagen zu reflektieren. An der Lage der Frauen im sozialen Raum lassen sich Erschütterungen ablesen: Geht es den Frauen gut/schlecht, dann geht es der Gesellschaft gut/schlecht. Dieser sozio-seismische Seismograph registriert aktuell weltweit erschütternd hohe Ausschläge in die falsche Richtung.
© Gisela Schmalz
Empfohlene Zitierweise/Recommended Citation: Schmalz, Gisela: “Seismographen der Gesellschaft” (2025). https://www.giselaschmalz.com/seismographen-der-gesellschaft-zum-internationalen-frauentag-2020/
Dieser Text ist eine modifizierte Version des Artikels: Schmalz, Gisela: “Seismographen der Gesellschaft – Zum Internationalen Frauentag 2020” (2020). http://carta.info/seismographen-der-gesellschaft-zum-internationalen-frauentag-2020/
Erschienen c/o CARTA.info: Gisela Schmalz: “Seismographen der Gesellschaft – Zum Internationalen Frauentag 2020” (2020)