Seismographen der Gesellschaft

Wie fortschrittlich eine Gesellschaft ist, zeigt sich an der Situation der Frauen. Seit 1911 Jahren gibt es den Internationalen Frauentag. Doch die Anliegen sind heute dieselben wie damals: Gleichberechtigung, Wahlrecht, Anrecht auf öffentliche Ämter, Emanzipation und Anti-Diskriminierung am Arbeitsplatz. Dass die Themen weiterhin akut sind, ob im Süden, Norden, Osten oder Westen der Erde, und egal wie reich oder wissenschaftlich aufgeklärt eine Gesellschaft ist, und dass deshalb noch im 21. Jahrhundert Frauentage begangen werden müssen, ist skandalös. Aber dass jetzt das Thema Gewalt gegen Frauen als Kern-Anliegen hinzukommt, ist erschreckend.

In unterschiedlichen Ländern, Branchen und Kontexten gibt es feine bis grobe Unterschiede im Umgang mit Frauen. Diese eignen sich als Maß zum Vergleich von sozialem Fortschritt. Doch jeder Vergleich erübrigt sich, wenn das Mindset der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung so aussieht, wie es der 2020 veröffentlichte Gender Social Norms Index (GSNI) der UN zeigt. Demnach hegen nahezu 90 Prozent aller Menschen weltweit Vorurteile gegen Frauen.

Der Index misst, wie sein Titel besagt, die Geschlechtervorstellungen, die als Norm oder als normal erachtet werden. Im Rahmen des „United Nations Development Programme“ wurden Daten zur Gleichstellung von Frauen in den Bereichen Haushalt, Ausbildung, Politik, Beruf und Gesundheit in 75 Ländern erhoben. Gefragt wurde beispielsweise nach politischen Leitfiguren oder danach, wer eine bessere Ausbildung erhalten und mehr Geld verdienen sollte, Frauen oder Männer. Die für die UN-Studie gesammelten Meinungen und Haltungen belegen, dass das männliche Prinzip (weiterhin) als Maß fast aller Dinge gilt.

Für neun von zehn Frauen und Männern ist der Standard-Mensch männlich. Die meisten Menschen sehen das männliche Prinzip oder Männer als Norm oder als normal an. Und was normal ist, wird auch als gut, richtig und erstrebenswert betrachtet.

Diese Auffassung stärkt das Männliche in der Welt. Sie liefert einen Freifahrtschein dafür mit, alles abzuurteilen, was von der Norm = Mann abweicht. Was ihr entspricht, wird geachtet und nachgeahmt, und was nicht, wird in Wort oder Tat missachtet, abgewertet etc. etc.. Dieser logische Fehlschluss vom Ist- zum Soll-Zustand ist gängige Theorie, aber auch Praxis. Das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein.

28 Prozent der für den GSNI befragten Personen denken, ein Mann habe das Recht, seine Frau zu schlagen. Dieses „normale“ Denken bildet dann auch die Vorlage für „normales“ Handeln. So kommt es, dass laut der UN-Studie “Human Development Perspectives” im Jahr 2020 nur 24 Prozent der Parlamentssitze weltweit von Frauen besetzt waren. Von 193 Regierungen wurden nur 10 von Frauen geführt und mit Elizabeth Warren zog sich eine qualifizierte Kandidatin aus dem Wettbewerb um den US-Präsidentenposten zurück. Weniger als sechs Prozent der 500 größten börsennotierten US-Unternehmen hatten weibliche CEOs.

Jährlich erstellt das Forbes-Magazin die Liste “The World´s 100 Most Powerful Women”. Angesichts der Erstellung der Liste für 2022 wurden die Erfolge von Frauen gefeiert, aber auch gefragt: “Is Women’s Power In Peril?”

Genau wie noch vor 100 Jahren arbeiten Frauen mehr als Männer, verdienen aber weniger. Zu breiten Macht- und Einkommensklüften gesellen sich andere, handfestere Schikanierungen sowie Misshandlungen von Frauen. Für fast jede Frau gehören sie in irgendeiner Form zum Alltag. Das Spektrum der Missachtung von Frauen ist sehr breit. Es reicht von Ignoranz bis Gewalt. Und die Gewalt gegen Frauen nimmt nocheinmal zu, sobald ein Krieg ausbricht, wenn Männer entscheiden, sich mit anderen als friedlichen Mitteln zu streiten. Ihre Kämpfe tragen sie nicht allein untereinander aus, sondern richten sich auch gegen Kinder und Frauen. Dabei dienen Verbrechen an Kindern und Frauen oft nur als Umweg-Gewaltakte, dazu, um sich an anderen Männern zu rächen. So wenig nimmt man die Leben von Kindern und Frauen ernst.

Keineswegs darf Schlechterbehandlung oder gar Gewalt als normal wahrgenommen oder in irgendeiner Weise akzeptiert werden. Frauen stellen 50 Prozent der Menschheit, und müssten schon rein rechnerisch zu 50 Prozent gleichgestellt sein – also weder aus humanitären Gründen noch aus Liebe zu den Frauen. Die Gründe dafür, Frauen gleichberechtigt zu behandeln, einzubeziehen und in verantwortlich Positionen zu bringen, sind auch praktischer Natur. Unterschiedliche Studien aus den letzten Jahren belegen, dass diverse, gender-gerechte Teams für Unternehmen bessere Ergebnisse erwirtschaften als homogene Teams.

In einer zunehmend komplexen Weltsituation werden alle Talente zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft benötigt. Nur inklusive Gesellschaften können umfassende und langfristige Fortschritte herstellen, statt bloß bereichsbezogene Fortschrittchen. Damit würde auch die Formel Fortschritt für alle Sinn ergeben und nicht bloß für einige gelten, und damit gar nicht.

Aktuell sehen wir wissenschaftliche und technologische Fortschritte. Aber die sozialen und moralischen Fortschritte hinken weit hinterher, weswegen man kaum von Fortschritt sprechen kann. Zu beobachten sind derzeit sogar Rückschritte – auch in sich avanciert wähnenden westlichen Bevölkerungen. Hier wächst die Verunsicherung. Wachsende Ängste vor sozialem und ökonomischem Abstieg, vor der Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch neue Technologien, vor Überwachung, Klimakatastrophen, Migrationsbewegungen, Epidemien und Krieg lähmen die Menschen oder reizen sie zur Aggressivität.

Zu der Sorge, dass ihnen etwas weggenommen werden könnte, addiert sich ein Ohnmachtsgefühl. Das kratzt am Selbstbewusstsein. Wer in depressiver Lage Ursachen und Wirkungen nicht begreifen kann oder nicht begreifen will, wer sich nicht zuerst selbst befragt oder in Frage stellt, externalisiert seine Ängste. Unzufriedenheit mit sich und der Welt äußert sich dann in Wut gegen andere.

Minderheiten und Menschen, die vermeintlich anders sind oder anscheinend höher oder niedriger gestellt sind, werden zu Sündenböcken gemacht: Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit anderer Meinung, Menschen mit anderer sexueller Orientierung und Menschen mit anderem Geschlecht.

Alles, was nicht als Norm definiert ist, darunter Frauen und das weibliche Prinzip (falls so etwas existiert), wird zum Wutablassen benutzt. Da Frauen überall und in großer Zahl verfügbar sind, scheinen sie sich hervorragend dafür anzubieten, um diffuse Ängste auszuagieren.

Und ausgerechnet eine Errungenschaft der Aufklärung und moderner Naturwissenschaften, der technologische  Fortschritt, begünstigt derlei Regression. Bei Social Media-Plattformen steigt der Hate Speech-Pegel an. Incels („involuntary celibates”, unfreiwillig zölibatär lebende, heterosexuelle Männer), MGTOWs (Vertreter der anti-feministischen Männerbewegung „Men Going Their Own Way“), Alt-Right-Anhänger, Rechtspopulisten, Nazis und Kriegstreiber sondern online Dinge von Beleidigungen über Flüche bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen gegen Frauen ab. Sie erhalten dafür Zuspruch, und ihre Aufrufe werden zum Teil umgesetzt.

Je weniger menschenverachtenden Posts entgegengesetzt wird, desto öfter und vehementer werden sie geäußert und desto eher werden Verbrechen begangen. Im Netz wird vorbereitet, was in der Welt passiert. In demokratischen Gesellschaften werden Frauen bei Beförderungen übergangen. Hier wird Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, öffentliche Figuren sind und öffentliche Posten einnehmen, anonymisierter, unterdrückt-versteckter oder offener Hass entgegengebracht. In nicht-demokratischen Gesellschaften werden Frauen bevormundet oder eingesperrt. In Kriegsgebieten werden sie vergewaltigt oder umgebracht.

Sobald die Zeiten schwieriger werden, Ohnmachtsgefühle und Zukunftsängste das Denken und Handeln dominieren, bekommen Frauen das zuerst zu spüren. Das bildet auch der Women Peace and Security Index der Georgetown University für 2023/24 ab.

Frauen sind keine Opfer. Aber die Situation der Frauen kann als Spiegel dienen, dazu, die eigenen Ängste und das eigene Versagen zu reflektieren. An der Lage der Frauen im sozialen Raum lassen sich Erschütterungen ablesen: Geht es den Frauen gut/schlecht, dann geht es der Gesellschaft gut/schlecht. Dieser sozio-seismische Seismograph registriert aktuell weltweit erschütternd hohe Ausschläge in die falsche Richtung.

© Gisela Schmalz

Empfohlene Zitierweise/Recommended Citation: Schmalz, Gisela: “Seismographen der Gesellschaft” (2023).  https://www.giselaschmalz.com/seismographen-der-gesellschaft-zum-internationalen-frauentag-2020/

Dieser Text ist eine modifizierte Version des Artikels: Schmalz, Gisela: “Seismographen der Gesellschaft – Zum Internationalen Frauentag 2020” (2020).  http://carta.info/seismographen-der-gesellschaft-zum-internationalen-frauentag-2020/

Erschienen c/o CARTA.info: Gisela Schmalz: “Seismographen der Gesellschaft – Zum Internationalen Frauentag 2020” (2020)